Liebe Mitglieder von KIDRO e.V.,
liebe Förderer, Interessierte und Kolleginnen,
liebe Leserinnen,


Weihnachten steht vor der Tür, während ich diese Zeile schreibe. Es wird vorbei sein, während Sie dies
lesen. Bis vor wenigen Minuten war die Wärmestube noch festlich geschmückt, doch jetzt ist der
Tannenbaum bereits aufgeräumt. Es ist niemand mehr da, das letzte Wort ist längst verhallt, der letzte
Blick vergangen. Zurück bleibt der Duft des Bratens in der Luft. –
Und die Stille.


Erst jetzt finde ich Zeit, um Ihnen einen weihnachtlichen Gruß zu schreiben. Zu spät, könnte man
meinen. Aber es ist nicht zu spät, denn ich will Ihnen von der Weihnachtsgeschichte erzählen, die nie
endet. Versteckt vor den Augen der Öffentlichkeit findet die „Herbergssuche“ unentwegt statt: bei den
Menschen, mit denen wir Beratungsstellen täglich arbeiten. Sie endet nicht an Weihnachten, weil sie
keine Erzählung ist, sondern Realität. Manchmal eine schöne Realität, manchmal eine sehr traurige.
Nehmen Sie sich Zeit, ich will Ihnen davon erzählen.


Ich beginne in einem kleinen Dorf in der Rhön. Im Sommer traf ich auf ein junges, obdachloses
Mädchen. Sie schlief nicht auf der Straße, sondern mal hier mal da. Das klingt erträglich, aber wer die
Wohnung hat, bestimmt auch, wie man sich darin verhalten muss. Schon die ersten Treffen mit ihr
gestalteten sich eigenartig. Obwohl ich ihr regelmäßig Essen und manchmal auch Geld mitbrachte,
erschien sie nicht immer. Obwohl wir eine Wohnung besichtigen wollten, kam sie nicht. Man könnte ihre
Unzuverlässigkeit verurteilen. Aber nach 23 Jahren Sozialarbeit habe ich gelernt, genau zu schauen,
bevor ich werte. Und mit einmal ging ich der spannenden Frage nach: „Wer schließt das Mädchen ein,
damit sie keine Hilfe bekommt?“ Ich fand lange keine Antwort.


Irgendwann fanden wir dennoch eine erste Wohnung und eine Beschäftigung. Und obwohl sie sich so
sehr auf diese Arbeit freute, fehlte sie von Anfang an mehrfach in der Woche. Nie war sie während der
Fehlzeiten erreichbar. Nie fand ich sie in ihrer Wohnung. Erst nach Ende der Arbeitszeit hob sie ab,
entschuldigte sich und erzählte mir eine Begründung. Eine Ausrede könnte man auch voreilig denken.

Der Kontakt war gut, auch wenn sie ein Geheimnis vor mir zu haben schien. Dann kamen die Tage, an
denen sie mich immer wieder mal anrief, weil sie sich ausgeschlossen habe. Sie fragte, ob ich kommen
könne, um die Tür zu öffnen. Manchmal stand sie mit Schlafanzug nachts auf der Straße. Den Müll
wollte sie raus gebracht haben, hat sie gesagt, als ihr die Tür zu fiel. Es muss viel Müll gewesen sein,
denn es passierte häufig.


Ich fand eine andere Wohnung, die von mir vermittelte Arbeit blieb dieselbe. Die Firma zeigte sich sehr
kooperativ.


Trotz vieler Gespräche, die häufig motiviert klangen, blieb das Muster bestehen. Sie versprach, künftig
zuverlässiger zu sein und bedankte sich für die Arbeit von KIDRO. Aber sie hielt auch weitere Termine
nicht immer ein und fehlte am Arbeitsplatz. Seltsamerweise begründete sie das Fehlen am Arbeitsplatz
manchmal damit, dass sie arbeiten musste. Wo anders. Hatte sie selbst eine zweite Arbeit gefunden?
Es ist nicht allzu lange her, als ich das erste Mal unter ihrer Schminke blaue Flecken entdeckte, auf der
Wange, am Auge und auf der Stirn. Rote Kratzer am Hals. Am Küchenschrank habe sie sich gestoßen,
sagte sie. Und ich fragte erneut, aber sie blieb dabei. Am Küchenschrank habe sie sich gestoßen. Ich
saß am Boden, sie auf dem einzigen Stuhl in der Wohnung. Wir schwiegen. Dann blickte ich ihr fragend
in die Augen: „Willst du wissen, was ich über deine Flecken denke?“ Sie antwortete wortlos. Nein.


„Weil du ahnst, was ich dir sagen würde?“ Ich hielt ihrem Blick stand, sie nicht meinem. „Wir wissen
beide, dass es nicht der Küchenschrank war, oder?“ Sie brach in Tränen aus.


„Passiert das bei deiner anderen Arbeit?“ – Kaum merkbar antworteten nur ihre Augen. Ja.


„Ist es so schlimm, dass du keine Hilfe mehr holen kannst?“ – „Ich habe es versucht“, sagte sie nur und
zeigte mir das zertrümmerte Handy. Und mit einmal erschließen sich Zusammenhänge, die ich bisher
nicht verstanden hatte. Wenn man nachts aus seiner eigenen Wohnung flüchtet, dann kann es
vorkommen, dass man im Schlafanzug auf der Straße steht.


Ich muss Ihnen allen nicht erklären, wovon ich in meiner Geschichte erzähle. Ich kann Ihnen aber
sagen, dass das kein Mädchen freiwillig tut. Es ist die Not, die einen dazu bringt, Dinge zu tun, die man
nie tun wollte. Oder anders gesagt, Menschen zu vertrauen, denen man nicht vertrauen sollte.
Wir leben in Deutschland, einem hochgradig organisierten Sozialstaat. Und trotzdem versagen wir an
so vielen Stellen kläglich, weil wir unsere Gesetze und Regeln so gestalten, wie sie nach unseren
Erfahrungen sinnvoll erscheinen. Aber welcher Entscheidungsträger hat denn jene Erfahrungen
sammeln müssen, von denen ich gerade erzähle.


Not hat so viele Gesichter!


Sie versteckt sich in jedem Ort, häufig hinter undurchsichtigen Mauern. Deshalb erahnen wir sie nicht.
Manchmal offenbart sie sich in ganz kleinen Sätzen: So kam es, dass ich vergangenes Jahr mit einer
ebenfalls jungen Frau alleine im Wald spazieren war. Ich kenne sie schon seit ihrer Jugend. Plötzlich
hielt sie an und schaute mir in die Augen: „Herr Fenn, ich glaube, Sie sind der einzige Mann, bei dem
ich keine Angst habe, wenn ich allein mit ihm im Wald bin.“ Das könnte ich als wunderbare
Rückmeldung empfinden, aber der Satz schreit danach, mir zu verraten, welche Erfahrungen sie sonst
sammelt und welches Bild Männer über andere Männer in ihr erzeugen. Not hat viele Gesichter.
Es gibt viele Beratungsstellen mit einem großartigen Angebot. Und unser Landkreis muss sich mit
seinem Angebot ganz sicher nicht verstecken. Die Kommunalpolitik ist hier in vielen Gemeinden
aufgeschlossen, mehr denn je. Und dennoch genügt es nie.

Deshalb hat KIDRO angefangen unkonventionelle Wege zu gehen. Wir wollen im Alltag der Menschen
ankommen und auf eine Weise helfen, die als Hilfe empfunden wird. Das können Kleinigkeiten sein. So
steht seit kurzem im Eingangsbereich unserer Einrichtung ein Bett. Weil in diesen Wochen manch
Obdachloser dort tagsüber schläft, wenn er es nachts vor Kälte nicht kann. Erstmals in der
Vereinsgeschichte haben wir dieses Jahr auch für einen Schüler eine Wohnung angemietet, die wir ihm
überlassen. Bis er diese selbst zahlen kann. Weil es sonst keinen Start ins Leben gäbe.


Erst das Zusammenspiel all unserer Arbeitsbereiche kann vielfältige Bedürfnisse bedienen. In der
Wärmestube kann man sich aufhalten, warten und aufwärmen. Man kann seine Wäsche waschen und
sich duschen. In der Kleiderkammer gibt es frische Kleidung für sehr wenig Geld. Während sich die
Berater im Haus um die Wohnungssuche kümmern, können die Jungs vom Möbellager mit Möbeln
versorgen. Das kann auch mal als Geschenk passieren. KIP (Integration in Arbeit) lehrt regelmäßiges
Arbeiten und soll auf den regulären Arbeitsmarkt vorbereiten. Das tun wir zwischenzeitlich auch dann,
wenn die Höchstförderzeit ausgeschöpft wurde. Wir zahlen das dann selbst, aus Spenden. Aber wir
versuchen niemanden hängen zu lassen, weil irgendeine Regel gerade sagt, dass Unterstützung nicht
zu genehmigen wäre. Und wer Sozialstunden bei uns ableisten muss, für den öffnet sich die Tür ins
Hilfesystem fast von alleine. Wir haben viel zu tun. Sehr viel.


Um all dies möglich zu machen, brauchen wir die Unterstützung von so vielen Menschen, von Ihnen,
von der Politik und von Behörden. Dabei geht es nicht nur um Geld und auch nicht zwingend um die
anpackende Hand. Es geht häufig auch um ein Netzwerk und Fürsprecher. Es gibt daher jetzt schon so
viele Menschen, bei denen wir uns bedanken müssen und wollen. Sie alle bitte ich: werden oder
bleiben Sie Mitglied bei KIDRO und seien Sie Teil dieses Hilfesystems, machen Sie Werbung für
unseren Verein, für unsere Arbeit und für das Möbellager Sofa. Werben Sie Mitglieder. Vor allem aber
greifen Sie ein, wenn Sie Not erkennen oder entstehen sehen.


Wir brauchen Sie! Weil die Menschen da draußen Sie brauchen.


Es ist Weihnachten! Während Sie das lesen, war Weihnachten. Die Herbergssuche von Maria und
Josef endet erfolgreich in einem Stall. Der Stall ist nur eine kleine Geste eines Herbergsvaters.
Vielleicht ist sie sogar aus Mitleid entstanden. Und doch ist diese kleine Geste ein wesentlicher Teil der
Weihnachtsgeschichte geworden, aus der letztlich ein Wunder entstanden ist, auf das wir seit
zweitausend Jahren zurückblicken. Längst wissen Sie, dass jeder von uns tagtäglich Teil dieses
Wunders sein kann. Denn die Weihnachtsgeschichte endet nicht an Weihnachten. Sie besteht einfach
weiter, immerfort. Und jeder von uns kann ein Teil von ihr werden.


Weihachten ist vorbei und doch nicht, nie. Deshalb wünschen wir Ihnen auch heute noch eine
besinnliche Weihnachtszeit und einen erfolgreichen Start ins neue Jahr.